
272 Kilometer Heimat – mein langer Tag von Unterkirchberg nach Bad Neustadt
Ein Start in die Kälte
Um 4:30 Uhr rolle ich in der Dunkelheit von Unterkirchberg los. Ich habe unruhig geschlafen, bin aufgeregt, voller Fragen: „Schaffe ich wirklich die 272 Kilometer an einem Tag?“ Draußen ist es bitterkalt – gerade einmal drei Grad, Atemwolken hängen vor meinem Gesicht. Mein neues Canyon Grail CF SLX 8 Di2, Carbon, knapp 8,6 Kilo leicht, wirkt wie gemacht für diese Herausforderung. Und doch weiß ich: am Ende entscheidet nicht die Technik, sondern mein Kopf und mein Körper.
Schon nach zwei Stunden in Heidenheim zeigt mein Radcomputer unglaubliche 0,5 °C. Als ich die vereisten Autoscheiben sehe, weiß ich, dass es sogar noch kälter sein muss. Minus ein Grad – Frost im Oktober. Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber solange ich trete, bleibt es erträglich. Ein Riegel hier, ein Schluck da – der Motor läuft.
Ein erster Rhythmus – 100 Kilometer Marke
Kurz vor Crailsheim, gegen 8:40 Uhr, habe ich bereits die ersten 100 Kilometer geschafft. Ich gönne mir eine Banane und einen Müsliriegel, der Zucker schiebt die Müdigkeit kurz beiseite. Die Sonne steigt langsam höher, Nebel zieht sich aus den Feldern zurück. Ein kleines Gefühl von Stolz macht sich breit: ein Drittel ist im Sack.

Zimtschnecke und Rothenburg
15 Kilometer vor Rothenburg halte ich an einem kleinen Dorfladen. Ein Kaffee, eine Zimtschnecke – warm, süß, der perfekte Kontrast zum frostigen Morgen. Als ich gegen 11 Uhr Rothenburg ob der Tauber erreiche, zieht die märchenhafte Altstadt an mir vorbei. Die Beine sind schwerer geworden, das Ziel noch weit. 124 Kilometer liegen noch vor mir. Doch jetzt begleitet mich Sonne, blauer Himmel, 10 Grad – als hätte sich die Welt in einen goldenen Herbsttag verwandelt.

Der zweite Wind – Kitzingen und der Main
Bei Kilometer 190 in Kitzingen fülle ich meine Flaschen an einem Norma-Supermarkt auf. Ein banaler Moment, und doch einer, der den Tag rettet: Frisches Wasser, ein kurzer Halt, ein tiefes Durchatmen. Fast 200 Kilometer sind geschafft – und überraschenderweise fühle ich mich noch relativ fit.
Die Landschaft wird weiter, Weinberge säumen die Strecke, der Main glitzert im Licht. Ich rolle durch die Sonne und spüre, wie sich Zuversicht breitmacht. Vielleicht geht es ja doch.


Schweinfurt und der harte Kopfteil
Hinter Schweinfurt erwischt mich die Realität: Bundesstraße B19, viel Verkehr, Lärm, keine Leichtigkeit mehr. Meine Beine sind müde, der Rücken zieht, die Nackenmuskeln brennen. Jetzt übernimmt der Kopf. Jeder Kilometer ist Kampf, jeder Anstieg ein kleines Gebirge. Ich rede mir ein: „Du bist schon so weit gekommen. Du schaffst das auch noch.“
Ankunft bei meiner Mutter
Nach 12 Stunden und 43 Minuten stehe ich schließlich vor dem Haus meiner Mutter in Bad Neustadt. Die reine Fahrzeit: 10 Stunden 48 Minuten. Auf dem Tacho stehen 272,21 Kilometer, 2.044 Höhenmeter, Durchschnitt 25,1 km/h, Durchschnittsleistung 207 Watt.
Sie öffnet die Tür, die Freude ist groß. Wir umarmen uns, Erleichterung und Stolz gleichzeitig. Erst nach einer langen, heißen Badewanne und einem leckeren Essen komme ich auch im Kopf wirklich an.
Ich bin erschöpft, aber glücklich. Stolz wie Oskar, dass ich es wieder geschafft habe – eine Reise, die weit mehr war als ein Trainingstag. Es war eine Fahrt zurück in die Heimat, ein Beweis, dass Grenzen verschiebbar sind, wenn man nur tritt, isst, trinkt – und den Kopf nicht verliert.
👉 Das war kein Rekord und keine Heldentat für die Geschichtsbücher. Aber für mich war es ein Tag voller Kontraste: Frost und Sonne, Müdigkeit und Euphorie, Schmerz und Freude. Und am Ende zählt nur eines: das warme Gefühl, zuhause anzukommen.


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