Verarbeitet, ultraverarbeitet, überbewertet?
Ernährung,  Gesundheit

Verarbeitet, ultraverarbeitet, überbewertet? – Was hinter den Klassifikationen wirklich steckt

Einleitung – Warum wir über Verarbeitung reden müssen

Immer öfter heißt es: „Finger weg von hochverarbeiteten Lebensmitteln!“
Besonders in der veganen Szene ist das Thema heiß diskutiert. Von Fleischalternativen bis Haferdrink – plötzlich scheint alles „zu industriell“ oder „chemisch“ zu sein.
Aber stimmt das wirklich?

Mit dieser Artikelserie möchte ich dir helfen, den Begriff „hochverarbeitet“ zu verstehen – objektiv, wissenschaftlich fundiert und ohne Schwarz-Weiß-Denken.
Wir schauen uns gemeinsam an:

  • was Lebensmittelverarbeitung überhaupt bedeutet,

  • wie Forscher sie klassifizieren (z. B. mit dem NOVA-System),

  • welche Kritik es daran gibt,

  • und warum Verarbeitung nicht automatisch ungesund ist.

In den kommenden Teilen geht es dann um die gesundheitlichen Wirkungen, die vegane Perspektive und um praktische Tipps für deinen Alltag.
Aber zuerst: Was heißt überhaupt verarbeitet?

1. Verarbeitet klingt schlimm. Ist es das wirklich?

Haferdrink aus der Packung, veganes Hack aus Erbsenprotein, ein Stück Brot aus dem Toaster – alles „ultraverarbeitet“, oder?
In sozialen Medien hat der Begriff längst den Status eines Schimpfworts. Wer „UPFs“ isst, heißt es, tut seinem Körper nichts Gutes. Aber Moment – was heißt das eigentlich genau?

Das Wort verarbeitet klingt nach Fabrik, Chemie und Laborhandschuhen. In Wirklichkeit beginnt Verarbeitung, sobald du zu Hause den Apfel schälst oder die Karotte in Scheiben schneidest. Das ist der erste Schritt eines Spektrums, das von „minimal verändert“ bis „industriell zusammengesetzt“ reicht.

 

 

 

Viele wissenschaftliche Debatten und Schlagzeilen drehen sich um die Frage, wo auf diesem Spektrum die Grenze zwischen praktisch und problematisch liegt. Um das zu verstehen, müssen wir erst einmal klären, wie Forscher überhaupt einordnen, was „hochverarbeitet“ ist.

🧠

Nicht jedes industriell hergestellte Produkt ist ungesund – und nicht jedes Selbstgekochte ist gut. Zucker und Fett aus der eigenen Küche sind genauso „verarbeitet“, nur eben zu Hause.

2. Warum wir Lebensmittel überhaupt verarbeiten

Lebensmittelverarbeitung hat nichts mit bösem Zauber zu tun, sondern mit Überleben, Geschmack und Logistik. Unsere Vorfahren haben schon vor Jahrtausenden Feuer, Salz und Fermentation genutzt, um Nahrung länger haltbar und bekömmlicher zu machen.

Fünf gute Gründe für Verarbeitung:

  1. Haltbarkeit:
    Pasteurisierte Pflanzendrinks oder tiefgefrorene Beeren verderben nicht auf dem Weg vom Acker bis zum Kühlschrank.

  2. Sicherheit:
    Durch Erhitzen werden Mikroorganismen abgetötet. Niemand will Salmonellen in seiner Soße.

  3. Verfügbarkeit und Komfort:
    Geschälte Erbsen, vorgeschnittenes Gemüse oder fertige Hafermilch sparen Zeit, ohne automatisch Nährstoffe zu vernichten.

  4. Nährstoffzugänglichkeit:
    Sojaprotein etwa wird erst durch Erhitzen und Pressen richtig verdaulich. Viele Vitamine werden sogar besser aufgenommen, wenn das Zellgewebe aufgebrochen ist – wie beim Garen von Tomaten (Lycopin!).

  5. Nachhaltigkeit:
    Tiefkühlgemüse reduziert Lebensmittelabfälle, weil es nicht so schnell verdirbt. Verarbeitung kann also Ressourcen schonen.

Beispiel:
Haferflocken sind verarbeitet – sonst wären es noch ganze Körner. Und Tofu ist fermentiertes, geronnenes Soja – eine Technik, die seit über 2000 Jahren existiert. Kein Mensch würde deswegen Tofu als „Junkfood“ bezeichnen.

3. Wie Wissenschaftler den Verarbeitungsgrad messen

Damit Studien weltweit vergleichbar sind, brauchte man eine Art „Karte“ des Verarbeitungsuniversums. Heute gibt es drei große Systeme: NOVA, UNC und SIGA. Sie versuchen, Lebensmittel danach zu ordnen, wie stark sie bearbeitet sind – nicht, ob sie gesund sind.


3.1 NOVA – die bekannteste Skala

Das NOVA-System wurde an der Universität São Paulo entwickelt und teilt alle Lebensmittel in vier Gruppen ein:

  1. Unverarbeitet oder minimal verarbeitet:
    Frisches Obst und Gemüse, Getreide, Hülsenfrüchte, Nüsse.
    Beispiel: Apfel, Haferflocken, Naturreis.

  2. Verarbeitete Zutaten:
    Dinge, die man zum Kochen braucht, aber selten pur isst: Öle, Zucker, Salz, Gewürze.

  3. Verarbeitete Lebensmittel:
    Produkte, die durch Kochen, Backen oder Fermentation entstehen – meist mit wenigen Zutaten.
    Beispiel: Brot, Käse, Sauerkraut, Tofu.

  4. Ultraverarbeitete Lebensmittel (UPFs):
    Industriell hergestellte Kombinationen aus isolierten Zutaten, mit Aromen, Emulgatoren oder Farbstoffen.
    Beispiel: Softdrinks, Chips, Instant-Nudeln, viele Süßigkeiten und Fertigmahlzeiten.

Das System wurde zum internationalen Standard, weil es simpel ist. Aber: Es hat Schwächen.

Kritik:
NOVA bewertet nur den Prozess, nicht die Qualität. Ein Vollkornbrot mit Saaten kann in derselben Gruppe landen wie Cola. Außerdem fallen traditionelle Lebensmittel wie Tofu oder Brot schnell in Gruppe 3 oder 4 – obwohl sie in vielen Kulturen Grundnahrungsmittel sind.

3.2 UNC – das amerikanische System

Die University of North Carolina wollte das genauer wissen. Ihr Modell unterscheidet zusätzlich, warum etwas verarbeitet wurde – zur Bequemlichkeit, zur Haltbarkeit oder zur Geschmacksoptimierung.

So kann ein paniertes, selbstgebackenes Schnitzel theoretisch „hochverarbeitet“ sein, obwohl du es zu Hause zubereitest. Der Fokus liegt also weniger auf „Fabrik“ und mehr auf dem technischen Aufwand und der Energiedichte des Produkts.

Vorteil: realistischere Abbildung des Marktes.
Nachteil: komplizierter, schwer für Laien anzuwenden.

3.3 SIGA – der französische Feinschliff

Das SIGA-System versucht, die Lücken zu schließen. Es kennt neun Stufen und berücksichtigt auch:

  • Nährwert (Ballaststoffe, Zucker, Fettqualität),

  • die Lebensmittelmatrix (also wie die Nährstoffe im Produkt eingebettet sind),

  • und technologische Marker wie Zusatzstoffe oder Aromen.

SIGA trennt also stärker zwischen „hochverarbeitet, aber nährstoffreich“ und „hochverarbeitet, aber nährstoffarm“. Ein ambitionierter Ansatz, der bisher noch nicht überall angewendet wird.

3 Systeme Verarbeitungsgrad

4. Was zählt konkret als „hochverarbeitet“?

Damit du das besser greifen kannst, hier ein paar typische Produkte im Vergleich:

ProduktNOVA-GruppeHauptmerkmaleKommentar
Apfel1roh, unverarbeitetBasisprodukt
Haferflocken1–2erhitzt, gewalztminimal verarbeitet
Brot vom Bäcker3gemischt, gebackenverarbeitet
Toastbrot4Emulgatoren, Enzymeultraverarbeitet
Naturtofu3fermentiert, gepressttraditionell verarbeitet
Veganes Hack4Protein-Isolate, Aromenindustriell stark verarbeitet
Pflanzendrink3–4Emulgatoren möglichGrenzfall
Tiefkühlgemüse1–2blanchiert, gefrorenpraktisch, nährstoffreich
Veganer Riegel4Süßungsmittel, Fette, Aromenhochverarbeitet

Kurz gesagt:
Sobald viele Zutaten kombiniert, Strukturen aufgebrochen und Zusatzstoffe eingesetzt werden, spricht man von „hochverarbeitet“. Aber das sagt noch nichts über den Nährwert aus.

Verarbeitungsgrad

5. Die Tücken der Klassifikationen

Hier wird’s spannend: Die Systeme helfen bei der Einordnung, aber sie haben blinde Flecken.

  1. NOVA ist zu grob:
    Eine Fertigsuppe mit 15 Gemüsezutaten und etwas Salz landet bei NOVA 4 – gleich neben Schokoriegeln.

  2. Nährwertprofil fehlt:
    Manche Produkte enthalten Ballaststoffe, Omega-3-Fettsäuren oder sind mit B12 angereichert – das fließt nicht in die Bewertung ein.

  3. Kulturelle Unterschiede:
    Brot, Tempeh oder Tofu sind in Asien und Europa uralte Grundnahrungsmittel – aber laut NOVA trotzdem „hochverarbeitet“.

  4. Matrixeffekte:
    Es macht einen Unterschied, ob Fett und Zucker in einer weichen Emulsion (z. B. Eiscreme) oder fest gebunden in Nüssen vorliegen. Diese Struktur beeinflusst die Aufnahme im Körper, wird aber selten berücksichtigt.

🧠

Die Wissenschaft streitet nicht darüber, ob hochverarbeitete Produkte ein Problem sind – sondern welche genau und warum.

6. Was die Forschung bisher wirklich zeigt

Die meisten großen Studien sind Beobachtungsstudien. Sie zeigen Zusammenhänge, keine Kausalität. Menschen, die viele UPFs essen, haben im Durchschnitt häufiger Übergewicht, Diabetes Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das könnte aber auch daran liegen, dass sie insgesamt weniger kochen, weniger Gemüse essen oder mehr sitzen.

Eine der wichtigsten experimentellen Studien:
2019 führte Kevin Hall (NIH, USA) ein zweiwöchiges Experiment durch. Zwei Gruppen bekamen gleich viele Kalorien – eine aus frischen Lebensmitteln, die andere aus ultraverarbeiteten. Ergebnis: Die UPF-Gruppe nahm täglich etwa 500 Kilokalorien mehr zu sich, ohne es zu merken, und nahm leicht zu.
Der Unterschied lag also im Essverhalten: schnelleres Kauen, höhere Energiedichte, mehr Appetit.

Weitere Meta-Analysen (2020–2024) bestätigen: Je höher der Anteil ultraverarbeiteter Produkte, desto größer das Risiko für bestimmte Krankheiten. Aber: Die Mechanismen sind noch nicht eindeutig. Liegt es an Zusatzstoffen, Textur, Energie-Dichte, oder daran, dass UPFs meist salz- und zuckerreicher sind?

7. Vegane Ersatzprodukte: verarbeitete Hoffnungsträger

In der Debatte werden vegane Produkte oft pauschal abgewertet: „Chemiebombe!“.
Tatsächlich gehören viele von ihnen nach NOVA in Gruppe 4 – sie sind also „hochverarbeitet“. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Technisch passiert Folgendes:
Pflanzliche Proteine (z. B. aus Erbsen, Soja oder Weizen) werden extrudiert – also unter Druck, Hitze und Feuchtigkeit zu einer faserigen Struktur geformt. Das ergibt die „fleischähnliche“ Textur. Dazu kommen Öle, Gewürze und Bindemittel.

Ernährungsphysiologisch betrachtet:
Viele dieser Produkte haben weniger gesättigte Fettsäuren, mehr Ballaststoffe und kein Cholesterin – oft auch zugesetztes B12, Eisen oder Kalzium. Der Salzgehalt ist teils hoch, ja, aber das lässt sich steuern.

Studienlage:
Die Stanford-Studie „SWAP-MEAT“ (2020) verglich acht Wochen lang pflanzliche Burger mit Rindfleisch. Ergebnis: Das pflanzliche Pendant senkte LDL-Cholesterin und Trimethylamin-N-Oxid (ein Marker für Herzrisiko).
Kurz: Nicht perfekt, aber auch kein Problemkind.

8. Fazit: Verarbeitung ist kein Schimpfwort

„Natürlich“ klingt schön, aber Natur allein ist kein Gesundheitsversprechen.
Verarbeitung kann Nährstoffe schützen, Lebensmittel sicherer machen und das Leben erleichtern.
Das Problem entsteht, wenn Produkte fast nur noch aus Zucker, Fett, Salz und Aromen bestehen – egal ob vegan oder nicht.

Verarbeitung ist also kein Feind. Sie ist ein Werkzeug.
Wie bei jedem Werkzeug gilt: Wer es bewusst nutzt, profitiert davon.

Checkliste: „Smart verarbeitet“ statt ultraverarbeitet

  1. Zutatenliste kurz und verständlich?
    Wenn du alles aussprechen kannst, bist du meist auf der sicheren Seite.

  2. Ballaststoffe und Proteine?
    Produkte mit pflanzlichen Proteinen, Vollkorn, Nüssen oder Hülsenfrüchten halten länger satt.

  3. Wenig Zucker, gesundes Fett?
    Mehr ungesättigte als gesättigte Fette – achte auf Raps-, Lein- oder Sonnenblumenöl.

  4. Salz im Blick behalten.
    < 1,2 g pro 100 g ist ein guter Richtwert.

  5. Fortifizierung prüfen.
    Bei veganen Produkten sind B12, Jod und Kalzium sinnvolle Zusätze, keine „Chemie“.

🧠

Verarbeitung ist wie Fahrradtechnik: Sie kann dich schneller, sicherer und weiter bringen – aber wenn du nur auf den Turbo drückst und nie lenkst, landest du im Graben.

🔗 Ausblick & verwandte Artikel

In der nächsten Folge dieser Serie geht es um die technischen Verfahren der Lebensmittelverarbeitung – vom Extrudieren über Fermentieren bis zum Trocknen. Wir schauen uns an, was dabei mit den Nährstoffen passiert und warum diese Prozesse teils unverzichtbar sind.

Wenn du dich tiefer mit Ernährung beschäftigen willst:

Beide findest du direkt auf meinem Blog – sie ergänzen dieses Thema perfekt.

Kommentar verfassen